Naturessay Nina Marie Müller – LK Kurbel

 

 

 

 

 

Blind wie ein Maulwurf oder doch eher gestrandet auf der Insel der Verblendung

„Die Vögel wissen nichts vom Herzzerreißenden ihres Klanges. Nur der Mensch kann es benennen.“

-Esther Kinsky-

 

Wir sitzen auf einer Bank am Rand des Waldes. Unser Blick gleitet über die weite Lichtung. Die Sonne verschwindet langsam hinter den Spitzen der im Wind tänzelnden Laubbäumen. Die leichte Brise kitzelt an unseren Nasen und weht den blumig duftenden Geruch von Moos und frischem Gras herbei. Die Drosseln und Finken zwitschern ein fröhliches Lied. Die Grillen sind in der Ferne zu hören. Wir verspüren an diesem späten Sommerabend ein Gefühl von Freiheit und ergreifender Melancholie. Weit, weit weg vom Alltag, von den Problemen, vom eigentlichen Leben. Und dies, obwohl wir uns doch nur 10 Minuten Fußweg entfernt von unserer eigenen Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses befinden. Bevor es wieder in den grauen Alltag und die betonierte Stadt geht, lassen wir die natürliche Schönheit vor unseren Augen noch ein wenig nachwirken.

Genau diese Möglichkeit bietet Natur uns, den Menschen. Nicht umsonst wird sie als „Seelenraum, Rückzugs- oder Zufluchtsort“ betitelt. Natur, verstanden als etwas Nichtmenschengemachtes, als etwas natürlich Ganzes, als Gegenstück zur Welt der Kultur, unserer Welt. –Denn genau das ist Natur doch oder?

Generell ist der Begriff „Natur“ historisch und besonders kulturell sehr variabel. Doch was verstehen wir eigentlich wirklich darunter? In meinem Kopf entwickeln sich sowohl Bilder eines plätschernden Wasserfalls als auch die eines düsteren Waldes. Wir Menschen, als sinnliche Wesen, nehmen nicht nur andere Menschen auf bestimmte Art wahr und interpretieren ihren Charakter, ihr Sein – nein; auch die Umwelt wird von uns aus einer bestimmten Perspektive gesehen und aufgenommen. Wir geben dem Wald eine Seele, sehen im Schnee ein romantisches Phänomen und verklären die Natur wie wir sie sehen wollen.

Begriffe wie Freiheit, Unendlichkeit, Ruhe, Schönheit werden automatisch mit Natur, Wildnis und Landschaft assoziiert. Weil wir in Großstädten und Metropolen leben, wir ständig von Menschengemachtem umgeben sind und Natur als Kontrast dessen wahrnehmen, wird sie von uns mit Bedeutung aufgeladen. Aufgeladen mit Gefühlen, Empfindungen, Erfahrungen und Erinnerungen. In der Stadt sind wir umgeben von Regeln und Normen, von Individuen wie uns selbst – doch in der Natur, dort haben wir die Möglichkeit uns frei zu entfalten, zu erkennen wer wir wirklich sind. Wie der Dichter Klaus Ender einst sagte „Wer den Weg zu Natur findet- findet den Weg zu sich selbst.“.

Die Bedeutung von Natur für den Menschen war schon immer gegeben. Das Verhältnis der beiden Komponenten mag sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, doch im Grunde ist es gleich geblieben, oder etwa nicht?

Was für eine Textart eignet sich besser, die Natur zu Versprachlichen, als Gedichte? Schon zu Zeiten der Romantik und der Klassik waren Dichter wie Goethe oder Eichendorff von der Sehnsucht zur Natur getrieben. Besonders die Klassiker sahen in ihr etwas Göttliches. In „Frühzeitiger Frühling“ schwelgt Goethe in Erinnerungen an die warmen, sonnigen Tage des Frühlings und Sommers- „Tage der Wonne, Kommt ihr so bald? Schenkt mir die Sonne, Hügel und Wald?“. Das harmonische Gezwitscher der Vögel in unserem Garten beschrieb auch er damals als „himmlische Lieder“. So scheint es doch eine ähnliche Beziehung zu geben.

Obwohl wir rund 200 Jahre später als die großen Dichter Eichendorff und Goethe leben, geht es uns doch nicht anders, wenn es um den Wechsel der Jahreszeiten geht. Im Frühling und Sommer sind wir glücklich, genießen die Sonne und erfreuen uns an den warmen Tagen von Liebe erfüllt. Doch wie auch Goethe in „An den Mond“ und Hölderlin in „An die Natur“ erwähnen, stirbt jährlich „die freundliche Natur“. Im Herbst verlässt die grüne Farbe die Blätter, die Temperaturen sinken, die Tage werden kürzer und das Wohlbefinden der Menschen fällt in den Keller. Im kalten Dezember angekommen, sind wir begleitet von Dunkelheit und Winterdepressionen. Verständlich ist nun auch, warum damals die Jahreszeiten von größerer Bedeutung waren, als sie beispielsweise heute für uns sind. Wir leben in der Stadt, umgeben von Menschen – selbst bei grauen, regnerischen Novemberwetter genießen wir die Wärme unserer Wohnung und sind dankbar für ein Dach über dem Kopf. Nun sind wir doch auf einmal ganz dankbar, dass wir Natur mehr als „Besuch im Zoo“ auffassen und nicht ständig in ihr Leben müssen wie das Eichhörnchen, das im tiefen Schnee seine Nüsse nicht mehr findet. Denn wie Werther in Goethes „die Leiden des jungen Werther“ schnell verstand, gibt es eben auch ungezähmte Facetten der Natur. Von der utopischen Darstellung im Frühling wendet er sich ab und auch er entdeckt das Zerstörerische als „ein ewig verschlingendes wiederkauendes Ungeheuer“.

Ich bin der Meinung, dass diese einseitige Betrachtung auch heute bei uns der Fall ist. Bei unserer beschränkten Perspektive auf die Dinge konzentrieren wir uns nur auf die Idealisierung der Natur. Wir gehen davon aus, dass diese unerschöpflich ist, unserem Zwecke dient und als Werkzeug unseres Nutzens fungieren sollte. Nicht ohne Grund passt das Zitat „Jeder mag Natur – solange Parkplätze, asphaltierte Wege und Restaurants da sind. Ungezähmte Landschaften ängstigen uns“ wie die Faust aufs Auge zur Einstellung unserer Gesellschaft.

Eigentlich verkörpern wir doch einen Zwiespalt, eine Ambivalenz oder? Auf der einen Seite betrachten wir Natur als Reservat natürlicher Schönheit sowie Objekt ästhetischen Befindens und auf der anderen Seite beuten wir sie zu unserem Profit maßlos aus. Genau wie unsere innere Sehnsucht nach der Natur und das anschließende Unwohlsein, wenn es zu viel in unseren Augen ist. Ein amüsantes Beispiel meiner Meinung- die Wolfspopulation in Deutschland. Es sind wieder mehr Wölfe in den deutschen Wäldern unterwegs! – Ja, na gut, es ist immer noch eine verschwindend geringe Anzahl und die von ihnen ausgehende Gefahr ist durch die Scheu und das Meiden von Menschen in etwa so groß wie in Deutschland von einem Alligator gefressen zu werden, aber egal. Massenhysterie, Angst und Schrecken beherrschen die Medien. Ihr habt Recht, wir müssen etwas dagegen tun! Wir schieben jetzt einmal den romantisierten Gedanken von der Natur beiseite und wildern diese fünf Wölfe in unseren Wäldern ohne Rücksicht auf dessen Auswirkungen. –toller Plan.

Doch wenn wir auch in weiteren 200 Jahren Dichter haben wollen, die mit der Beschreibung von Naturphänomenen unser Herz zum Glühen bringen, sollten wir in Deutschland nicht täglich Grünflächen von der Größe von 100 Fußballfeldern abholzen, sondern vielleicht einmal einen Gedanken der Natur schenken und eine Bereitschaft zum Verzicht an den Tag legen. Denn nicht der technische Fortschritt tut unserer Seele gut, vielmehr der Ausflug an den See oder der Spaziergang übers Feld. Wir sollten uns definitiv nicht als Herren der Natur betrachten, sondern mehr als Teil von ihrem Ganzen, weil genau das sind wir. Nicht mehr, nicht weniger.

Wir empfinden die Natur oft als etwas Schönes, Harmonisches und als sehenswert aus dem einfachen Grund, dass sie einen Kontrast zum grauen Alltag darstellt – eben etwas Besonderes. Ein Kontrast zu der sonst menschengemachten Umgebung. Doch mit Bezug auf mein Anfangszitat von Kinsky: verklären wir die Natur nicht vielleicht doch zum reinen Konstrukt unserer Fantasie? –Nein, ich denke nicht.

Ja, mit dem Satz „Natur ist für mich…“ beziehen wir uns klar auf die Imagination, doch Imagination ist in diesem Fall nicht zwangsläufig das Gegenteil der Wirklichkeit, vielleicht mehr ein Teil davon?

„Die Natur muss gefühlt werden“ –In diesem Fall bin ich ganz auf Alexander von Humboldts Seite. Es ist nicht die Existenz der alten Tanne im Wald allein, die uns zum Grübeln bringt. Wir denken an all die Jahre, die sie schon vor uns auf dieser Welt war. Wir denken an ihre Entwicklung vom kleinen, zerbrechlichen Spross zum prächtigen Baum. Wir beziehen ihr Ende, welches sie im Sturm letzte Nacht fand, auf unsere eigene Sterblichkeit und sind von den Emotionen überwältigt. In Rilkes „Blaue Hortensie“ ist die Natur auch plötzlich nicht mehr himmlisch, golden und schön, sondern trocken, stumpf und rau. So erkennt auch er durch den Wechsel der Jahreszeiten die „eigene Lebens Kürze“.

Ein trauriger, aber auch schöner Gedanken, wie ich finde, den Rilke in sein Gedicht miteinbezieht. „Biophilie“-die Liebe zum Lebendigen; ist es nicht genau das was uns in unserem tiefsten Innersten in die Natur ruft? Unser intuitives Gefühl, dass ein Erlebnis in der Natürlichkeit des Waldes uns gut tut. Sind wir nicht alle ein Teil von der Natur, der Wildnis? Allein evolutionsbedingt haben wir als Spezies Mensch doch schon den Großteil unserer Existenz in den Tiefen der Wälder und nicht im zwei Zimmer Apartment in Manhattan im 16. Stock verbracht. Also warum entwickeln wir eine menschliche Abgrenzung von der nichtmenschlichen Natur? -Ich dachte wir hätten uns darauf geeinigt, dass wir die Wildnis als Gegenwelt unserer Kultur wertschätzen. Scheint so, als würden wir unsere Meinung doch häufiger mal wechseln. Vielleicht je nachdem wie es uns gerade passt, oder nicht? Auf der einen Seite sprechen wir in Ländern des Sahels Bäumen menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten zu und auf der anderen Seite behandeln wir die Natur nur gerade so, damit wir das Überleben der Menschen zu sichern. Komisch oder nicht?

Da stellt sich doch die Frage, was ist der Mensch denn eigentlich. Ich denke, er entsprang der Natur, lebte für Jahrtausende in ihr – also warum sollte er kein Teil von ihr sein? Der Mensch ist doch nicht allein. Es geht um seine Verbindung zur Umwelt. Man kann den Menschen und die Natur nicht getrennt voneinander Betrachten. Schon 1795 beschrieb Hölderlin die Fülle der Natur als allumfassend und fühlte sich umschlossen ihrer Schönheit. Umschlossen- ja, genau dieses Wort passt, denn egal, wie krampfhaft wir versuchen mit riesen Metropolen die Natur zu verdrängen, sie wird immer ein Teil von uns bleiben. Auch wenn wir soweit das Auge reicht nur grauen Beton in unserem Blickfeld haben, der innere Drang, die tiefe Sehnsucht nach Natur wird uns ein ewiger Begleiter sein.

„Die Vögel wissen nichts vom Herzzerreißenden ihres Klanges. Nur der Mensch kann es benennen.“ Damit habe ich begonnen, damit werde ich schließen. Wir haben das gespaltene Verhältnis zwischen Mensch und Natur nun geklärt, doch was ist unser Fazit? Schon zu Zeiten von Goethe und Eichendorff wurde die Natur geteilt porträtiert. Ja, die romantisierte Darstellung der ersten Sonnenstrahlen im erwachenden Frühling auf der einen Seite, aber eben auch die ungezähmte und fortreißende Wildnis auf der anderen. So auch im Laufe der Zeit. Mascha Kaleko, 150 Jahr später, denkt an die unbeschwerte Kindheit und den Ausflug im Schnee. Wohingegen Annette von DrosteHülshoff in der erdrückenden Hitze staub atmet. Wir sind umgeben von zweigeteilter Meinung über die Natur. Aber sein wir doch mal ehrlich, wer wünscht sich nicht im dunklen Winter die warmen Sommertage und im heißen Sommer den romantischen Ausflug im Schnee? Denn genau so sind wir Menschen eben, immer auf der Suche nach etwas, das wir nicht haben. Je nach dem wir es uns passt, so betrachten wir die Natur. Dies prägt unser Verhältnis zu ihr. Eigennutz und Bequemlichkeit, aber auch Bewunderung und Wertschätzung.

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.